Die sexuelle Orientierung wird nicht jedem gleich in die Wiege gelegt. Manchmal braucht es Jahre oder Jahrzehnte, bis sich jemand seiner selbst sicher ist. Wie Sina Valentina, so ihr Künstlername. Zur Zeit macht sie von sich Reden, weil ihr am 10. Januar ein emotional sehr schwieriger Gerichtsprozess bevorsteht. Dann soll sie als Zeugin aussagen. Auf dem Kiez wurde die 35-Jährige Opfer einer transphoben Gewaltattacke mit schweren gesundheitlichen und psychischen Folgen (MOIN.DE berichtete).
Hier erzählt die Wahl-Hamburgerin, die mit zwei Chihuahuas und fünf Kanarienvögeln in Barmbek-Süd lebt, wie aus dem Jungen David Stöcker ein schwuler Mann, dann die Dragqueen Sina Valentina und nun die transsexuelle Frau Samia Stöcker wurde.
Hamburg: Das erste Mal
MOIN.DE: Wann hast Du das erste Mal gemerkt, dass Du Dich nicht für Mädchen interessierst?
Samia Stöcker: Ich war ungefähr zehn Jahre alt. In einer Jugendherberge entdeckten wir Kinder in spielerischer Weise das andere Geschlecht. Ich nicht. Mein Interesse galt nur den Jungs, auf sie war ich neugierig. Mit Mädchen konnte ich spielen und mich nett unterhalten, mehr nicht. Ich habe auch nie mit Jungs Fußball gespielt. Meinen Mitschülern fiel auch auf, dass ich aus der Reihe tanzte. Aber da man mich nicht einordnen konnte, war ich viel allein. Mit zwölf habe ich meine Augenbrauen gezupft, war sehr zierlich und weich.
Wann hattest Du Deinen ersten sexuellen Kontakt?
Mit siebzehn hatte ich meinen ersten Freund. Davor hatte ich mich in einen Jungen verguckt, der in einem Supermarkt arbeitete. Wir hatten mehrmals Blickkontakt, dann gab ich ihm meine Nummer. Auf dem Parkplatz haben wir uns geküsst.
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Wie war Dein erster Sex mit einem Mann?
Mein erster Freund hatte ein sehr großes Geschlechtsorgan, deshalb habe ich mich nicht getraut, es einzuführen. Wir haben uns deshalb nur heimlich geküsst, angefasst und gegenseitig befriedigt. Es war schwierig, weil er noch zu Hause wohnte. Seine Eltern schauten oft nach uns.
In diesem Alter wurdest Du nicht von Mädchen angegraben?
Meinen ersten Kontakt zu einem Mädchen hatte ich mit dreizehn. Sie hat mich geküsst. Es hat sich wie eine Nacktschnecke im Mund angefühlt. Völlig fremd, ekelig, gar nicht schön. Ich hatte auch keine Ambitionen, ihre Brüste anzufassen. Mädchen haben mich null interessiert, weil ich auf Männer fixiert war. Maskuline Männer, starke Muskeln, Behaarungen.
Hamburg: Freund an Krebs verloren
Konntest Du Deine sexuelle Ausrichtung öffentlich zeigen?
Ja, nach meinem ersten Kuss auf dem Supermarktparkplatz bin ich ganz stolz durch die Gegend gelaufen. Ich wohnte in einer WG und habe allen erzählt, dass ich schwul bin. Viele haben nur mit den Achseln gezuckt und gesagt: Das ist doch nichts Neues. Mein offizielles Outing war keine Überraschung. Ich hatte mich da schon weiblich gekleidet mit figurbetonten Sachen und tiefen Ausschnitten.
Wie lange warst Du dann schwul?
Bis ich dreißig war. Bis dahin hatte ich mehrere Beziehungen. Die meisten dauerten aber nur ein paar Monate, weil ich mich immer wieder für einen neuen Mann interessierte. Engere Zuneigung hatte ich zu vier Männern. Vor ein paar Jahren hatte ich eine intensivere Beziehung, die endete, weil mein Freund an Krebs starb.
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Hattest Du auch nur rein sexuelle Verabredungen?
Das war der überwiegende Teil. Wir sind eine recht oberflächliche Community, die Sex an jeder Ecke findet. Wir daten uns über Apps wie Grindr oder Gayromeo, wo man sich nur zum schnellen Sex verabredet. Treffen, Sex haben, auseinander gehen. Das ist Gang und Gäbe. Diese Treffen finden in einer Sauna oder im Freien wie im Hamburger Stadtpark statt. Mal öffentlich, mal weniger öffentlich. Pro Woche hatte ich auf diese Weise meist drei verschiedene Sexualpartner. Ich kann die Männer schon nicht mehr zählen. Als Mann hat man Druck, den man loswerden möchte.
Hamburg: Doppelleben
Welche sind die angesagten Schwulentreffs für schnellen Sex in Hamburg?
In St. Georg die Gay-Sauna „Dragon Sauna“ und die Gay-Bar „Toms Saloon“ am Pulverteich, die Gay-Fetisch-Bar „S.L.U.T Club“ an der Rostocker Straße. Dort gibt’s Darkrooms für schnellen Sex. Auf St. Pauli gibt es in der Talstraße das Gay-Kino „Sex-Kino No. 8“ und den Erotik-Shop „Mystery Hall“ jeweils mit Rückzugsmöglichkeiten.
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Dann wurdest Du Dragqueen.
Mit Anfang zwanzig begann ich meine Laufbahn als Travestie-Künstler, Drag-Queen und Model. Zuerst war es mein Hobby, mich so zu verkleiden. Dann habe ich meine ganze Leidenschaft und Kreativität, mein Geld und meine Energie da hineingesteckt und mein Hobby zum Beruf gemacht. Im Nachhinein war es eine Art Doppelleben, aber ich war in meiner Rolle authentisch. Ich habe Events organisiert, hatte auch TV-Auftritte.
Wie wurdest Du zur Frau?
Dieser Prozess kam schleichend mit Ende zwanzig. Obwohl ich schwul war, nahmen mich meine Sexualpartner oft eher als weibliche Person wahr. Während eines Gesprächs bei einem Neujahrsempfang im Hamburger Rathaus habe ich zum ersten Mal gesagt, dass es doch egal ist, ob ich schwul, transsexuell oder Dragqueen bin. Damit habe ich zum ersten Mal diese Option ausgesprochen, dass ich transsexuell sein könnte. Mir wurde klar, dass ich mich nicht mehr verkleiden muss, um mich als Frau zu fühlen. Diese Erkenntnis hat mich zu mir selbst gebracht. Ich war mit mir als Mann fertig. Eigentlich war ich tot.
Wie ging es Dir damit?
Ich hatte Suizidgedanken, wusste nicht, was mit mir los, stellte mich in Frage. Ich wusste, ich brauche Hilfe und habe mich an die Trans-Beratung im UKE gewandt. Mir war klar, dass ich mein altes Leben aufgeben muss und war bereit, alles Nötige zu tun. So ging ich vor fünf Jahren in Therapie, die ein Jahr lang dauerte. Ich wurde begutachtet, um herauszufinden, ob ich wirklich transsexuell oder nur in einer depressiven Phase bin. Ich habe mich von meinem alten Ich gelöst und begann die Hormon-Behandlung.
Hamburg: Ein langer Weg
Was musstest Du einnehmen?
Zuerst nur Östrogene. Dann bekam ich sehr starke Testosteron-Blocker, wodurch die Hoden schrumpften und verschiedene Hormone. Ich bekam weibliche Züge. Meine komplette Muskulatur ging zurück. Ich bekam sogar Cellulite und nahm am Po, an den Hüften und am Bauch zu. Meine Brust- und Beinbehaarung wurde weniger. Den Bart musste ich lasern lassen. Meine Gesichtszüge wurden femininer. Ich bekam weibliche Brustdrüsen, was sehr schmerzhaft war. Alles war eine große Belastung für meinen Körper.
Wie lang dauerte diese Leidensphase?
Knapp drei Jahre. Zuerst hatte ich nur Teenie-Titten wie in der Pubertät und fand das aufregend. Aber mit der Zeit war mir das zu wenig, weil ich mich noch nicht als Frau fühlte. Ich bekam einen Brustaufbau und habe jetzt Körbchengröße C bis D. Jetzt nach fünf Jahren komme ich allmählich zur Ruhe. Ich habe den Östrogen-Wert einer biologischen Frau und werde ein Leben lang Medikamente nehmen müssen. Wegen meiner Medikation hat die Krankenkasse alles bezahlt.
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Hast Du noch Deinen Penis?
Ja, aber ich bin mit ihm nicht aktiv. Es ist eine ganz individuelle Entscheidung, wie weit man mit seinem Körper geht. Es gibt Transsexuelle, die ihren Penis nicht mehr ertragen und ihn wegoperieren lassen. Für mich kommt das nicht in Frage, da ich 30 Jahre mit ihm gelebt habe. Ich kann mit ihm einen Orgasmus bekommen, aber durch die Medikamente kommt kaum Sperma. Die anale Befriedigung steht im Fokus. Mein Anal ist jetzt quasi meine Vagina. Eine Scheide kommt nicht in Frage, da die drei Eingriffe mit zu vielen medizinischen Risiken verbunden wären.
Wie lebst Du jetzt?
Ich fühle mich als Frau, denke als Frau, agiere wie eine Frau und lebe so. In meinem Personalausweis steht nicht mehr David, sondern Samia. Seit drei Jahren bin ich mit einem 30-jährigen Afghanen liiert. Er sieht mich als Frau und behandelt mich als Frau. Als wir uns kennenlernten, hatte er eine gewisse Ahnung, dass ich keine biologische Frau bin. Er liebt mich und macht sich keine Gedanken darüber, wie ich früher mal war.