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Hamburg: Kiez-Legende mit düsterer Prognose für Reeperbahn – „Sehr, sehr brutal geworden“

Hamburger Ur-Kiezianer packt im Gespräch mit MOIN.DE aus. Die Reeperbahn hat sich aus seiner Sicht negativ verändert…

© IMAGO / imagebroker

Hamburg, meine Perle: Warum die Stadt so einzigartig ist

Mit über 1,8 Mio. Einwohner ist Hamburg die zweitgrößte Stadt Deutschlands. Außerdem kommen rund sieben Mio. Touristen pro Jahr in die Hansestadt. Doch was macht die Stadt so beliebt und einzigartig?

Hamburg-St. Pauli ist nach wie vor ein Hotspot für Touristen-Ströme aus allen Teilen der Welt. Dabei lebt der Kiez besonders von seinem Image vergangener Zeiten. Denn es hat sich inzwischen viel verändert. Besonders durch Corona.

Geht man heute durch die 100 Meter lange Herbertstraße, in der früher zu Stoßzeiten Massen lüsterner Männer flanierten, ist dort kaum noch was los. Früher saßen Huren in jedem Schaufenster und hielten Ausschau nach Freiern für schnellen Sex. Heute stehen einige dieser Häuser in Hamburg leer.

Hamburg: Reeperbahn hat sich verändert

MOIN.DE traf sich dort mit Carsten Marek. Dem Ur-Kiezianer, „Babylon“-Bordellbetreiber, „Zur Ritze“-Gastronom und einstiges Mitglied der berüchtigten Zuhälterbande „Nutella“ gehört selbst ein Haus. Das mit der Nummer 8.

Normalerweise sitzt dort, wie in den anderen Etablissements auch, eine Prostituierte im Schaufenster, um zu kobern. Doch gerade wird es renoviert und dann an einen Betreiber vermietet. Carsten Marek erzählt, wie sich der Kiez aus seiner Sicht negativ verändert und was die Politik damit zu tun hat.

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MOIN.DE: Wenig los in der berühmten Herbertstraße. Woran liegt das?

Carsten Marek: Die Frauen haben zwar ihre Corona-Hilfen bekommen. Aber weil die Pandemie so lange dauerte, haben sich viele umorientiert. Ein großer Teil arbeitet jetzt in Modellwohnungen, oder wickelt das Geschäft übers Internet ab. 

Ist dieser Trend auf den ganzen Kiez übertragbar?

Ja, hier ist es überall sehr rückläufig. Es springt jetzt wieder ein bisschen an, aber es ist überhaupt nicht mit früher zu vergleichen.

Ist die Zahl der Zuhälter auch zurückgegangen? 

Auf jeden Fall. Man merkt ja seit Corona, dass nichts mehr groß passiert ist. Keine Revierkämpfe. Um was soll man sich denn hier noch streiten?

Wie groß ist derzeit der Kern der Zuhälter, die aktiv dabei sind? 

Schwer zu sagen. Den größeren Kern machen die Deutschen und die Albaner aus. Dann gibt es noch zwei, drei kleine Gruppierungen, zu denen fünf bis zehn Jungs verschiedener Herkunft gehören. Das war es dann auch schon. Aber wie viele jeweils drinhängen, kann ich nicht sagen, weil jeder sein eigenes Süppchen kocht.

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Wie ist generell die Stimmung auf dem Kiez?

Zur Zeit ist hier ein Abschwung. Anfang des Jahres, wo ja immer schlechtes Geschäft ist, sah es sehr rosig aus. Ich würde mal sagen, da war immer noch der große Nachholbedarf. Die Ferienzeit schwächt immer das Geschäft enorm. Das war auch schon die Jahre davor so. Aber jetzt sind die Ferien vorbei. Und der Motor ist bis jetzt nicht wieder angesprungen. Nur freitags und samstags ist richtig Lauf. Ich weiß ja noch von vielen Läden, die jetzt erst anfangen zu schwächeln.

Wieso?

Einige müssen ihre Corona-Hilfen zurückzahlen. Die haben natürlich kassiert und nicht bedacht, dass sie darauf Steuern zu zahlen haben.

War vielen wohl nicht klar. Verstehe ich zwar nicht, höre ich aber raus. Das ist hier nur noch ein reiner Überlebenskampf.

Carsten Marek vor der Hamburger Kult-Kneipe „Zur Ritze“. Foto: IMAGO / Future Image

Was müsste passieren, damit die Entwicklung nicht rückläufig ist? 

Das Sex-Gewerbe müsste wieder mehr gepusht werden. Es müsste dort, wo etwas frei wird, wieder etwas mit Sex reinkommen. Es gibt keine Peep-Shows mehr wie früher. Oder Erotik-Varietés wie das Salambo, das Ende der 90er geschlossen wurde. Das tut langfristig auch dem Tourismus nicht gut. Der Kiez ist eine Fress- und Saufmeile geworden.

Aus welchem Grund bleibst Du hier erhalten? Du könntest sagen, ich habe die Schnauze voll. 

Ja, die Schnauze habe ich wirklich voll. Okay, ich klage auf einem hohen Niveau. Die Ritze ist natürlich ein Ausnahmeladen. Und es gibt noch einige Kultläden, die auch einigermaßen gut laufen. Tja, was soll ich sagen? Es ist sehr, sehr schwer geworden.

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Spielt ein bisschen Melancholie oder Nostalgie eine Rolle, dass Du bleibst?

Ich würde sagen, mit der „Ritze“ habe ich so ein lachendes Auge und ein weinendes Auge. Wenn ich da reingehe, dann fühle ich mich wohl. Es hat sich durch mich ein bisschen was verändert. Früher war die Kundschaft ganz anders. Es waren viele Stammgäste da. Die konnte ich bedauerlicherweise nicht halten.

Ich bin zum Beispiel mit Gzuz von der Hip-Hop-Band „187 Straßenbande“ gut befreundet, die in der „Ritze“ verkehrt. Dadurch habe ich eine ganz andere Zielgruppe ansprechen können. Wenn die dann ein Video postet oder einen Film in der Kneipe dreht, dann erreicht man natürlich ganz andere Zielgruppen, die ich vorher nicht erreicht habe. 

Möchtest Du diese Zielgruppe denn gern drin haben?

Warum nicht? Das Gute ist, dass die „Ritze“ immer eine bestimmte Aura hatte und noch hat. Alle benehmen sich. Es wird zwar knallhart gesoffen und es ist auch sehr laut, aber Streit gibt es so gut wie gar nicht. Ich werde oft gefragt, warum ich keine Türsteher habe. Die brauchte ich nur in der Corona-Zeit, um Impfpässe zu kontrollieren. 

Wenn Du jetzt eine Prognose abgibst, was wird sich in den nächsten Jahren auf St. Pauli ändern?

Ich weiß natürlich einiges, wer sehr schwächelt und schließen muss. Es werden wohl noch einige koppheister gehen. Aber zum Glück läuft das Travestie-Theater „Pulverfass“. Es sollen auch noch neue, große Hotels eröffnen. Und ich selbst eröffne wahrscheinlich noch in diesem Jahr direkt neben der „Ritze“ einen Edel-Imbiss, bei dem es hauptsächlich Hähnchen gibt.


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Wenn man am Tag über die Meile geht, wird das ganze Ausmaß der steigenden Obdachlosigkeit sichtbar. Drogensüchtige, Alkoholiker, aggressive Bettler. Das verschreckt viele Touris. Sollte die Stadt etwas unternehmen?

Ja, auf jeden Fall. Als Betreiber brauche ich nur bei der Davidwache anzurufen. Dann wird das sofort geklärt. Wenn ein Laden tagsüber zu hat, dann legen die Leute sich mit ihren Schlafsäcken vor die Eingänge. Wohin sollen die denn auch? Das macht ja auch St. Pauli aus, ob es dir schlecht oder gut geht, man wird nicht vertrieben. Das ist völlig okay. Aber umso mehr Läden zu machen, umso größer wird das Problem werden, weil die dann mehr Platz haben, sich auszubreiten. Obdachlose an sich sind kein Problem, aber es sind einfach zu viele geworden.

Was könnte die Stadt konkret tun?

Da ist guter Rat teuer. Du merkst nicht, dass die Stadt ein Konzept dagegen hat, weil einfach nichts passiert. St. Pauli ist nicht mal einen Kilometer lang. Auf jeden Fall müsste mehr Personal eingesetzt werden. Zudem ist es sehr, sehr brutal geworden. Es gibt ständig Messerstechereien. Als erstes müsste schon mal ganz streng ein Messerverbot durchgesetzt werden. Mehr Kontrollen müssten es geben. Dass es inzwischen ein Glasflaschenverbot hier auf den Straßen gibt, finde ich schon mal super.